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Essay-Brief Dezember 2012

Begegnung mit dem „Ich“

© Bernd Helge Fritsch

 

In seiner tieferen Bedeutung ist die Geburt des Christus (lat. „Der Gesalbte“), wie wir sie zu Weihnachten feiern, nicht die Geburt eines Menschen namens Jesus von Nazaret, sondern die Begegnung mit sich selbst. In diesem Sinn sind auch die Worte des christlichen Mystikers Angelus Silesius zu verstehen:

Wär Christus tausendmal in Betlehem geboren und nicht in dir,

du bleibst doch ewiglich verloren!

 

Auch in anderen Kulturen, wie zum Beispiel in der buddhistischen, gilt die Selbstfindung als Krönung des menschlichen Lebensweges. So versteht man im Buddhismus unter dem Wort „Buddha“ nicht nur die historische Person des Siddhartha Gautama. Das Wort „Buddha“ bedeutet im Sanskrit „Der Erwachte“. Ein Buddha ist ein Mensch der sich selbst, sein Innerstes, gefunden hat. Er ist ein Wesen, das aus eigener Kraft seine vollkommene, grenzenlose und unsterbliche Natur erfahren hat.

Dieses „Erwachen“ muss sich logischerweise in einer Dimension jenseits unserer dualen Denkvorgänge vollziehen. Denn das „Grenzenlose“ kann nicht mit Begriffen eingefangen werden. Mit dem Denken wird das eine vom anderen isoliert, um beide voneinander zu unterscheiden. Das Denken kann nur einzelne getrennte Aspekte des Lebens beschreiben. Doch die sich daraus ergebenden einzelnen Teile sind nicht die Wirklichkeit. Jedes Ding, jeder Mensch ist im Grunde seines Wesens mit allen anderen Dingen und Erscheinungen untrennbar verwoben. Sie sind in ihrem wahren Sein tausendmal mehr, als wir uns erdenken können. Was uns der Verstand zeigt, ist eine Täuschung. Seine Analysen, Beurteilungen und Interpretationen von uns selbst und der Welt bilden jedoch einen fast undurchsichtigen Schleier, hinter dem sich das wirkliche Sein, die Ganzheit verbirgt. Was immer wir über Dinge, über andere oder über uns selbst denken, es wird immer nur Stückwerk sein. Das gilt selbstverständlich auch für den Inhalt dieses Essay-Briefes.

Hinter der Sehnsucht des Menschen nach dem großen, anhaltenden Glück und seinem, in der Regel vergeblichen, Bemühen, dieses Glück zu erreichen, verbirgt sich das tiefe Bedürfnis sich selbst zu erkennen, sich selbst zu finden. Denn die Glückseligkeit, welche tiefen Frieden, unerschöpfliche Liebe und befreiende Weisheit umfasst, können wir nicht in äußeren Erscheinungen finden, sondern nur in der Erfahrung unseres Innersten. Dieses Innerste kennt keine gedanklichen Begrenzungen. Es ist identisch mit dem allumfassenden Sein. In der Sprache der Menschen hat es viele Namen wie beispielsweise: wahres Ich, höheres Selbst, Atman, Christus in mir, Buddha-Natur…

Dem „normalen“ Menschen ist sein „Ich“ weitreichend abhanden gekommen. Dies obwohl sich zumeist sein ganzer Alltag ständig um sein sogenanntes „Ich“ dreht. So kreist unser Denken mit Vorliebe um dieses „Ich“ und „Mein“ mit Worten wie: „Ich will das“; „Ich will das nicht“; „Ich mache mir Sorgen dass, …“;  „Ich bin stolz, weil …“; „Ich bin so arm, weil…“; „Mein“ Partner, „meine“ Kinder, „mein“ Haus, „mein“ Auto, „meine“ Karriere, „mein“ Geld… Doch wenn wir genauer hinschauen, so ist dieses „Ich“ gar nichts Wirkliches. So paradox es klingt, es beherrscht und tyrannisiert uns, doch es existiert gar nicht. Es ist wie eine Fata Morgana. Es ist nur ein gedankliches Konstrukt. Unkontrollierte Gedanken und Gefühle machen sich im Bewusstsein breit und wir identifizieren uns mit ihnen.

Ein Beispiel möge das verständlich machen: Du ärgerst dich über das Verhalten eines Menschen in deiner Nähe. Da ist zuerst eine Wahrnehmung über die Sinne. Der andere sagt etwas. Deine Ohren hören es. Automatisch bewertet dein Gehirn die Worte des anderen. „Du“ willst es gar nicht, doch blitzartig, wie aus heiterem Himmel, kommt der Gedanke daher: „das ist beleidigend“ und sofort folgt, ebenfalls blitzartig, ein Gefühl von: „Wut, Zorn, Verletztheit“. Die beleidigenden Worte des anderen sind ganz ohne deinen Willen im Gehirn gelandet. Da war kein „Ich“ beteiligt. Du kannst zwar einwenden: Es waren aber „meine“ Ohren und „mein“ Gehirn, die gehört haben! Doch bei dieser Denkweise gehst du davon aus, dass dein „Ich“ identisch ist mit deinem Körper, mit deinem Gehirn, deinem Denken und Fühlen, deinen Erinnerungen – doch ist dem so? Wenn dir ein Bein amputiert wird, bist du dann weniger „Ich“? Wird dir ein neues Herz implantiert, hast du dann ein anderes „Ich“? Verändert sich ständig dein „Ich“, je nachdem in welchem Zustand sich dein Körper befindet, je nachdem was du denkst oder fühlst, je nachdem an was du dich erinnerst?

Da war auch kein „Ich“, welches gedacht hat – das Urteil, die Gedanken waren plötzlich da. Man könnte sagen ein „Es“, vergleichbar mit einem Computerprogramm, hat die Worte des anderen automatisch analysiert und bewertet. Ebenso sind von irgendwo, vielleicht aus dem sogenannten „Unterbewusstsein“, heftige Gefühle aufgetaucht. Beim Vorgang des Hörens, Beurteilens und Fühlens war kein „Ich“ beteiligt. Das „Ich“ hast du gewohnheitsmäßig erst hinterher bei Betrachtung deiner Gedanken und Gefühle hinzugefügt. Du denkst hinterher: „Ich war so wütend!“ Doch diese Aussage beruht auf einer ungenauen Beobachtung. Da war reflexartig ein Wutgefühl da und erst danach, allerdings sehr, sehr schnell, erfolgte die Identifikation deines „Ichs“ mit dieser Wut.

Und jetzt kommen wir zur sogenannten „Gretchenfrage“: Welches „Ich“ identifiziert sich mit dem Körper, mit Gedanken und Gefühlen? Welches „Ich“ sucht und findet vielleicht sein „wahres Ich“? Gibt es da zwei „Ichs“? Was ist das „wahre Ich“?

Haben dich die vorstehenden Gedanken und Fragen schon genügend verwirrt? Wir bewegen uns auf der Suche nach unserem Wesenskern, soweit wir dabei auf unseren Verstand vertrauen, tatsächlich auf einem sehr glatten Boden. Doch die Lösung der Fragen kann einfacher erfolgen, als es vorerst den Anschein hat.

Natürlich haben wir nur ein „Ich“. Das sagen uns unser Verstand und ebenso auch unsere Intuition. Wenn wir am Morgen aufwachen ist sofort, noch bevor unser Denken einsetzt, dieses Gefühl des „Ich bin“ da. Und offenbar war dieses Gefühl auch im Tiefschlaf vorhanden, sodass wir sagen können: „Ich habe heute Nacht herrlich tief und gut geschlafen!“ Den ganzen Tag über könnten wir dieses feine, wunderbare Ich-Bewusstsein aufrechterhalten, wenn wir uns nicht in unseren Tätigkeiten, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen verlieren würden.

Der Mensch wurde durch die Entwicklung des dualen Denkens in seinem Bewusstsein von der Einheit mit allem Sein (auch Gott, Brahman oder Universalbewusstsein genannt) getrennt. Dadurch wurde die Entstehung seiner Individualität und damit sein Ego-Denken ermöglicht. Das war ein Vorgang in der Evolution, der ohne bewusste Beteiligung des Menschen vonstatten ging. Das neue Bewusstsein hat im Menschen ein geheimnisvolles „Ich“ entstehen lassen. Dieses „Ich“ ist phantastischerweise zur Selbstreflexion fähig.  Das heißt, der Mensch kann seinen Wesenskern erkennen. Das „Ich“ kann sich selbst begegnen. So wie die Augen mit Hilfe eines Spiegels sich selbst betrachten können, so kann das Individuum, sein „Ich“, wenn es intensiv genug nach „Innen“ schaut, wahrnehmen.

Doch dieser Vorgang erfolgt nicht „von selbst“, sondern bedarf einer kraftvollen Entscheidung des Menschen. Nur mit entsprechender Hingabe und Achtsamkeit können wir uns selbst näherkommen, uns begegnen und damit unser „Ich“, welches gewöhnlich durch seine diversen Identifikationen gefangen ist, befreien.

Jede Identifikation mit „etwas“ grenzt unser „Ich“ ein und führt zu Leid. Umgekehrt befreien wir uns mit jedem „Loslassen“ und kehren zurück zu der undefinierbaren, unbegrenzten Glückseligkeit, die wir wirklich sind. „Identifikation“ bedeutet sich deckungsgleich mit etwas fühlen. Solange wir uns als dies oder das definieren, setzen wir uns gleich mit etwas, was wir nicht sind. Auf diese Art kommt unserem Bewusstsein unser wirkliches „Ich“ abhanden. Damit verbunden ist der Verlust des Gefühls der Harmonie und der Einheit mit der allumfassenden Dimension des Seins.

Es gibt unterschiedliche Stufen des „Ich-Verlustes“:

 

Das bedeutet nicht, dass wir ständig, wie „Säulenheilige“ versuchen sollten, im Zustand transzendenter Alleinheit zu verweilen. (Anmerkung: Als  „Säulenheilige“ wurden seit dem 4. Jahrhundert Mönche bezeichnet, die zum Zeichen besonderer Askese auf dem, mit einer Platte vergrößerten, Kapitell einer Säule wohnten).

Im erscheinenden Leben dürfen wir, wie ein Schauspieler auf der Bühne, diese oder jene Rolle spielen. Das kann sehr erfüllend und beglückend sein, solange wir dabei unser wahres „Ich“ nicht vergessen, das heißt, uns nicht mit unserem Körper, unserem Denken und Fühlen, mit unseren Erinnerungen oder mit einer Rolle, die wir spielen, „identifizieren“.

Um dir selbst zu begegnen, um den „Christus/ Buddha in dir“ zu erfahren, musst du dich nicht besonders anstrengen. Denn du kannst dein „Ich“ nicht erdenken, erschaffen oder erreichen, sondern du kannst es nur sein. Alle Vollkommenheit ist und wirkt schon in dir. Du musst nur im „Jetzt“ die wunderbare Tiefe des zeitlosen Augenblicks zulassen – wie man so treffend neudeutsch sagt: „just be“. Vielleicht nützt du dazu die schönen Wintertage, in der die Natur selbst stille wird und bei sich Einkehr hält.

 

Besinnliche und frohe Tage wünscht euch

Euer Bernd

 

PS.: Unter www.berndhelgefritsch.com findet ihr im Archiv alle Essay-Briefe der letzten zwei Jahre.

 

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Ich freue mich über jedes Feedback, über Fragen und Anregungen und werde sie gerne                      persönlich beantworten.

 

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