ESSAY-BRIEF

Über das Schicksal hinausgehen (Gita VI.)  

© Bernd Helge Fritsch

 

„Lila das göttliche Spiel“

Die altindische Mythologie bezeichnet die Welt der Formen als „Maya“ (Göttin der Illusion, Schöpferin des Universums). Sie wird auch als „Lila“, als göttliches Spiel bezeichnet, in dem die höchste Wesenheit (Brahman, Krishna) ihre Schaffenskraft in wunderbarer, tausendfältiger Weise offenbart. Auch unser Körper mit seinen Sinnesorganen sowie unser Mind (unser Denken, Fühlen und Wollen) wurden von dieser Kraft geschaffen und werden fortlaufend von ihr gesteuert.

Dasselbe gilt für unser Schicksal (sanskrit: karma), welches Teil dieser Erscheinungswelt ist und von den Gesetzen des göttlichen Spiels bestimmt wird.

Dazu lesen wir in der Gita:

4: 6 (Krishna:) Mein wahres Wesen ist ungeboren und unveränderlich. Ich bin der Herr, der in allen Geschöpfen wohnt. Durch die Kraft der Maya manifestiere ich mich in unzähligen, vergänglichen Formen.

8: 3  Brahman ist der höchste Geist, das unvergängliche Höchste. Es ist das alles umfassende Sein. Als Selbst (Atman) bildet das Höchste den unsterblichen Wesenskern in allen Lebewesen.

Als Karma bezeichnet man die schöpferische Kraft, die das Schicksal aller Wesen bestimmt.

 

Der menschliche Geist funktioniert sehr merkwürdig: Er schaut hinein in die „Einheit“ allen Lebens und erblickt in ihr eine „Vielheit“. Diese Vielheit entfaltet sich durch den Zauber der Dualität. Es gäbe für uns kein Bewusstsein von Licht, gäbe es nicht auch Dunkelheit. Es gäbe für uns kein Begehren gegenüber gewissen Dingen, würden wir nicht andere ablehnen. Wir hätten keinen Begriff von Leben ohne die Erfahrung des Vergehens. Die dualen Qualitäten bedingen sich gegenseitig. Kontraste machen die Eigenheiten der Phänomene für unseren Verstand sichtbar.

Um sich in der Vielheit zu Recht zu finden, benützt der Verstand ein Begriff-System von „Materie“, „Raum“ und „Zeit“. Dieses System folgt speziellen Gesetzen. Es wird primär gesteuert vom „Ursache und Wirkung“-Prinzip. Bei physikalischen und chemischen Prozessen kann jeder dieses Gesetz gut beobachten: Der Nagel dringt ins Holz, weil er vom Hammer geschlagen wird. Der Heuhaufen brennt, weil ihn jemand entzündet hat. -„Durch Ursache entsteht Wirkung! -Ohne Ursache - keine Wirkung!“ Aber auch alle sonstigen Lebensvorgänge werden vom „Kausal-Gesetz“ bestimmt.

Das Kausal-Gesetz regelt auch unser persönliches Schicksal. Die Summe unserer Gedanken und Handlungen von gestern und heute ist verantwortlich für unsere inneren und äußeren Lebensumstände von morgen. Dazu zwei einfache Beispiele: Komme ich heute meinen beruflichen Pflichten nicht nach, so werde ich morgen Probleme haben. Trinke ich heute zu viel Alkohol, so habe ich am nächsten Tag Kopfweh.

Wir stehen solange im Banne des „Karma“, wie wir uns vom Spiel der „Maya“ täuschen lassen. Wenn wir aus dem „Traum der Trennung“ erwachen, verbinden wir uns mit der „Eins“, mit der Dimension jenseits von Ursache und Wirkung. Dann bildet sich kein neues Karma und eventuelle Auswirkungen von altem Karma berühren uns auf der seelisch-geistigen Ebene nicht mehr.

Seit Urzeiten wird das persönliche Karma-Gesetz so beschrieben:

Gutes tun bringt gute Folgen,

Böses tun bringt böse Folgen,

das Tun um des Tuns willen, bringt keinerlei Folgen mehr.

 

Wenn wir das Wesen der Maya durchschauen, wenn wir uns bewusst machen, wer wir wirklich sind, wenn wir unsere Ego-Wünsche und Sorgen fallen lassen und in der Folge im Einklang mit dem universalen Bewusstsein natürlich und spontan tun, was zu tun ist, so werden wir von den Folgen unserer Handlungen nicht mehr berührt.

„Reine Wahrnehmung“

Das ist keine Theorie, sondern das kann jeder in jedem Augenblick erfahren. Unternimm folgendes Experiment:

Betrachte eine Landschaft und kümmere dich nicht darum ob sie schön oder hässlich ist; oder

Beobachte eine Menschen und vergiss ob er dir sympathisch oder unsympathisch ist; oder

Beobachte deinen Körper, deine Gedanken und Gefühle und bewerte diese nicht als gut oder schlecht, liebenswert oder mangelhaft.

Verweile im Zustand des neutralen, gelassenen und in sich ruhenden, wunschlosen Beobachters. Beschränke dich darauf nur zu schauen, nur wahrzunehmen was momentan um dich und in dir ist. Vermeide deinen Mind mit seinen Gedanken, Beurteilungen und Wollen anspringen zu lassen. Betrachte die Dinge frei von allen Prägungen, als ob du sie erstmalig in deinem Leben erblickst.

Jetzt kannst du das sein, was du wirklich bist, „der eigenschaftslose Beobachter“, „das reine Bewusstsein“, der unendliche „Raum“ aus dem und in dem alle Phänomene erscheinen. In diesem Augenblick schweigt das Ego! – ein außergewöhnlicher Zustand!

Schau genau hin, schon wenn dir diese Übung für relativ kurze Augenblicke gelingt, wirst du erfühlen, wie befreiend das „Nicht-Denken“ ist, welcher Frieden sich ausbreitet, wenn du mit dem unbeschreibbaren hellwachem „reinen Sein“, mit der „reinen Wahrnehmung“ verbunden ist.

Bist du ganz gegenwärtig, ohne mit den Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft abzuschweifen, so schweigt das Ego und die Glückseligkeit des „Selbst“ wird für dich offenbar. Vielleicht nur für einen kurzen Augenblick bist du aller Lasten der Vergangenheit und deiner Wünsche und Sorgen betreffend die Zukunft enthoben. Dieser Bewusstseins-Zustand kann mit entsprechender Übung und Achtsamkeit wundersam ausgedehnt und vertieft werden.

 

Bei dieser Übung kannst du auch deiner Sucht gewahr werden, gedankliche Inhalte zu haben und sich mit ihnen zu identifizieren. Das Ego ist begierig danach seinem Bewusstsein Inhalte, gleich welcher Art (Gedanken, Emotionen, Bewertungen, Wünsche, Ängste, Dinge oder Aktionen) hinzuzufügen und Vergangenes rastlos im Bewusstsein weiter kreisen zu lassen. Es saugt daraus seine eingebildete Existenz, seinen eingebildeten Wert. Doch es gelangt so nie zu seinem Ursprung und wird deshalb ständig von einem tief sitzenden, meist gar nicht bewussten Gefühl von Mangel, Sorgen und Ängsten begleitet.

„Nicht-Handeln“

Das karma-befreite „Tun um des Tuns willen“ wird in der Gita als „Nicht-Handeln“ bezeichnet. Im Taoismus nennt man es „Wu – Wei“

Die Bhagavad-Gita erklärt dazu:

4: 16-17 Was ist Handeln und was ist Nicht-Handeln? Selbst große Weise wurden durch diese Frage verwirrt.

Man muss verstehen, was Handeln ist und was Nichthandeln und was falsches Handeln ist.

4: 18-21 Wer Handeln im Nicht-Handeln und Nicht-Handeln im Handeln verwirklicht, der verweilt unbeschwert im Selbst.

Weise sind diejenigen, die ohne egoistische Motive handeln. Ihr Karma wird im Feuer der Erkenntnis verbrannt.

 

„Nicht-Handeln“, auch „Entsagung“ (sanskrit: sannyasa) genannt, ist eine Geisteshaltung und bedeutet nicht „faul sein“ oder seine Aufgaben vernachlässigen. Der „Entsagende“ verharrt nicht in Untätigkeit, sondern er verrichtet seine Werke spontan, mit heiterer, ungebundener Seelenstimmung. Er macht sich keine Sorgen ob er richtig oder falsch entscheidet. Denn er fühlt, dass er keine Fehler machen kann, solange er mit dem Selbst verbunden ist. Schließlisch erkennt er, dass es im Grunde gar kein „falsch“ und „richtig“ gibt und dass die sogenannten „Fehler“ nur ein Teil des Spiels der Lila sind. So ruht er in sich im Vertrauen, dass er Nichts benötigt um glücklich zu sein.

Was der Weise tut oder nicht tut, es erfolgt aus der Einstellung: „Ich will nichts!“ „Ich überlasse das Geschehen dem universalen Geist!“ „Dein Wille geschehe!“

Wenn wir all unsere Wünsche und Glaubens-Konzepte loslassen, gibt es nichts Wesentliches zu erreichen. Wenn alle Identifikationen beendet sind, verbleibt der grenzenlose Raum des Bewusstseins aus dem alles hervorgeht und in dem alles wieder zurückkehrt. Dann sind wir Eins mit dem universellen Geist. Auch die Unterscheidung von „Dein Wille“ und „Mein Wille“ erweist sich sodann als Teil der großen Illusion.

„Nichthandeln“ ist Handeln ohne Anhaften und ohne inneren Widerstand gegen die Art, wie uns die Welt erscheint. Wer ohne Bindung an die Ergebnisse seines Wirkens handelt der ist frei.

 

4: 22-24 Der lebt in Freiheit, der zufrieden ist mit dem, was ihm das Schicksal bringt. Wer über duale Gegensätze erhaben ist (Schmerz und Leid), wer nichts begehrt und wer bei Erfolg und Misserfolg derselbe bleibt, wird von seinen Handlungen nicht gebunden.

Wer von Begehren erlöst ist, sichere Erkenntnis hat und seine Handlungen der Gottheit weiht, der handelt ohne Karma.

 

Der „Nicht-Handelnde“ ist glücklich und zufrieden, mit dem was ihm das Leben bietet. Er ruht im Frieden der „Zu-frieden-heit“ mit dem, was ist. Er akzeptiert die Erscheinungen wie sie sind. Er macht sich keine Sorgen, sondern lebt im Vertrauen auf den Grundsatz: „Das Schicksal macht keine Fehler“. Er weiß, dass alles Geschehen von dem „Einen“ durchdrungen ist. Er weiß: „Bei Gott ist jedes Haar gezählt!“ (Luk.12,7)

„Karma verbrennen“

Wie die meisten abendländischen Menschen bin auch ich belastet mit den kirchlich-christlichen Konzepten von Schuld und Strafe aufgewachsen. Ich kann mich noch gut an das tief beglückende und befreiende Gefühl erinnern, als ich vor vielen Jahren den nachstehenden Vers aus der Gita erstmals aufnehmen durfte:

4: 36-37 Wärst du auch der größte Sünder, Ardjuna, so wirst du doch mit dem Schiff der Weisheit das Meer aller Übel sicher überqueren. Nichts reinigt dich besser als Weisheit. Dies erfährt wer durch Yoga Vollendung erlangt.

Wie das Feuer alles Holz in Asche verwandelt, so verbrennt das Feuer der Erkenntnis alles Karma.

 

Unwissenheit und ihre Folgen tun oft sehr weh und lassen die Menschen leiden. Dennoch sollte Karma nicht als „Strafe“, sondern als weisheitsvolle „Schulung“ oder als „Wachrüttler“ aufgefasst werden. Im universalen Bewusstsein ist keine „Strafe“ für „böses Verhalten“ vorgesehen. Das wäre auch unsinnig, wenn wir im Sinne der Gita davon ausgehen, dass unsere Trennung von der Einheit und die damit verbundene Verwirrung des Geistes von der „niederen Natur Gottes“ im Rahmen der phantastischen Weisheit und Vollkommenheit göttlicher Schöpfung (Evolution) ins Werk gesetzt wurde.

Das universelle Bewusstsein „bestraft“ nicht Unwissenheit und die daraus resultierenden Entscheidungen und Handlungen, sondern hat nur das Ziel der Ziele im Auge: die Verwirklichung einer vom Ego befreiten Individualität, durch die im Bewusstsein vollzogene Rückkehr zur Einheit allen Seins.

Es gibt keine Schuld und keine Sünde! Solange der Mensch nicht erwacht ist er in einem hohen Maß fremdbestimmt. Er ist der Sklave seines Mind. Wie soll er im Zustand tiefer Unbewusstheit verantwortlich sein für seine Handlungen? In diesem Sinn spricht Jesus: „Herr vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Luk. 23,34). Ist er hingegen erwacht, so kann, will und wird er nicht anders handeln als im Einklang mit allem Sein. Dazwischen gibt es Abstufungen von Bewusstheit. Je mehr wir lernen achtsam zu beobachten, statt in den alten Mustern unseres Denkens gefangen zu sein, desto mehr Freiheit erlangen wir und umso leichter fällt es uns aus dem „Karma-Rad“ auszusteigen

Der „freie Wille“ des Menschen beschränkt sich vorerst im wesentlichen auf die Möglichkeit, entweder in seiner Unwissenheit zu verharren und sein Ego weiter zu hätscheln oder seine wichtigste Mission zu erfüllen, nämlich sich für ein höheres Bewusstsein, für die Erkenntnis seiner wahren Wesenheit zu öffnen.

Davon möchte ich im nächsten Essay-Brief weiter berichten.

 

Viel Bewusstheit, Freude und Gesundheit wünscht euch für das neue Jahr

 

Euer Bernd

Essay-Brief Jänner 2014

Briefe

Bücher

Team

Kontakt

Home

Aktuell