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Essay-Brief April 2012

Loslassen vom Ego = Verlust der Persönlichkeit?

© Bernd Helge Fritsch

 

Bei unserem letzten Seminar im Kloster Wernberg war ein junger Mann dabei, der seine Sorge äußerte, er würde durch den Weg der „Achtsamkeit“ und der „reinen Wahrnehmung“, wie ich ihn beschrieben habe, nicht nur sein Ego-Verhalten sondern zugleich auch seine Persönlichkeit verlieren. Was bleibt von „mir“ übrig, wenn ich mich nicht mehr mit meiner Vergangenheit, mit meinen Gedanken und Gefühlen identifiziere? Wer bin ich, wenn ich mein Verlangen, meine Wünsche und Hoffnungen betreffend die Zukunft aufgebe? Muss ich auf meine Lebensfreude, auf meine Begeisterung und meine Leidenschaften verzichten, wenn ich zum neutralen „Zeugen“ werde?

Diese Sorgen und Fragen betreffen im Kern eines der tiefsten Geheimnisse des menschlichen „Seins“. Hinduistische, buddhistische, alt-griechische, persische und christliche Philosophen, Weisheitslehrer und Mystiker haben versucht eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich“ zu geben. Sie alle durften erkennen, dass der menschliche Verstand, dass logische Analyse und Schlussfolgerung nicht ausreichen diese Frage zu beantworten. Denn um zu erkennen wer ich bin, muss ich mein wahres Sein verwirklichen, muss ich eins werden mit dem Sein. Ich kann das Leben nicht erdenken, sondern nur sein.

Wenn man alle Verschiedenheiten der Perspektive beiseitelässt, sind sich alle, die ihr wahres „Selbst“ erkannt haben, darin einig: Wir sind nicht nur Kinder Gottes, sondern wir sind auch „Eins“ mit ihm. Wir sind sowohl individuelles Bewusstsein als auch universelles Bewusstsein. Wir sind zugleich Bodhisattva (Erleuchtungswesen) und Buddha (allumfassende Weisheit). Wie Shankara sagt, ist Atman (die Einzelseele) identisch mit Brahman (der Ursprung allen Seins). Für den Verstand sind dies Paradoxa – einander widersprechende Gegensätze. Der Verstand sagt: „Ich kann nicht eine individuelle Person und zugleich Alles sein. Nur durch eine entsprechende Innenschau (Meditation), nur in der „lebendigen Stille“ hinter den Gedanken, jenseits von Worten können wir erfahren, was es bedeutet identisch sowohl mit dem „Ichbewusstsein“ UND mit dem „Allbewusstsein“ zu sein.

Die ursprüngliche Einheit der Menschen mit dem Universum wurde vor vielen tausend Jahren durch das Entstehen eines dualen Bewusstseins beendet. Dieser „Sündenfall“ der Menschheit war notwendig um individuelles Bewusstsein zu ermöglichen. Es entstand für unser Bewusstsein eine Grenze zwischen Ich (Körper und Mind) einerseits und der übrigen Welt. Mit dem Verlust der Einheit mit dem Ganzen (Gott, Buddha, Brahman, Allah) konnte etwas radikal Neues entstehen, was uns wesentlich von der übrigen Natur (Mineralstoffe, Pflanzen, Tiere) unterscheidet. Jeder Mensch wurde zu etwas Einmaligem, Einzigartigem – zu einer unverwechselbaren Individualität - mit eigener Verantwortung und eigenem Schicksal.

Der Preis dafür war ebenso hoch wie der Gewinn. Durch diese innere Trennung vom „Eins-Sein“ entstanden alle Ego-Leiden wie sie für den Menschen charakteristisch sind: Neid, Eifersucht, Begehren, Ängste, Ärger, Wut, Hass, schmerzhaftes Werden und Vergehen… Der Mensch wurde zum „verlorenen Sohn“ der fernab vom „Vaterhaus“ sein Erbe (Vertrauen, Geborgenheit, Harmonie, grenzenlose Liebe, Vollkommenheit und Unvergänglichkeit) verprasst. Leid und Erkenntnis, die beiden großen Lehrmeister des Menschen führen ihn jedoch zurück zu seinem Ursprung. Doch nun ist der Mensch nicht mehr derselbe, der er ursprünglich war. Er ist nicht nur Brahman (Gott) wie früher, sondern auch Atman. Er ist nicht nur „Sein“ wie alle Natur, sondern er hat auch bewusstes Sein. Deshalb kann er sich, so wie in diesem Leben, auch für alle künftigen Zeiten als Individualität – oder besser gesagt – „zeitlos“ offenbaren.

Damit Individualität Unvergänglichkeit erlangt und dadurch, wie man so schön sagt, „erleuchtet wird“, ist die Wieder-Verbindung mit dem universellen Bewusstsein erforderlich. Individualität, Persönlichkeit ist wie eine Pflanze. Ohne nährenden Boden kann sie nicht überleben. Dieser Boden ist das universelle, transzentente Bewusstsein. Erst wenn der „verlorene Sohn“ zu diesem Bewusstsein heimgekehrt ist, kann das Freudenfest beginnen. Die – im Verstand des Menschen entstandene - Trennung von der Einheit allen Seins muss beendet werden. Denn wie Angelus Silesius sagt: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt!“ Erst wenn unser „Ego-Denken“ mit seinen leidvollen Auswirkungen „gestorben“ ist, kann in uns das Sein wieder ungetrübt aufleuchten.

Der Gewinn durch die Früchte des „Baumes der Erkenntnis von gut und böse“ hat nur dann wirklichen Wert, wenn wir auch zum „Baum des ewigen Lebens“ vordringen (1.Mose 3,22). Dazu müssen wir nicht unsere Individualität, unsere Persönlichkeit, unsere Freude am Leben ablegen. Denn diesfalls wäre unsere lange und oft schmerzhafte Reise, wie zuvor beschrieben, ohne Sinn geblieben. Das Hindernis auf dem Weg zur Einheit, zum universalen Bewusstsein ist die einseitige Identifikation mit dem vergänglichen Körper, mit unseren Gedanken und Gefühlen, ist die einseitige Überzeugung nur „Ich“ und nicht auch „Du“ zu sein, sind die Verirrungen die aus einem von der Einheit getrennten Bewusstsein entstehen. Angst, Ärger, Neid, Habgier, Missgunst, Sorgen sind die Kehrseite des Gewinns der Persönlichkeit.

Das Ego hat eine wichtige Mission für den Menschen. Es ermöglicht unser individuelles Sein. Wir sollten es nicht bekämpfen. Erkenne wer du wirklich bist und die negativen Auswirkungen des Egos lösen sich von selbst auf. Erfreue dich so viel wie möglich an dem, was dir das Leben schenkt, erfreue dich an deinen Talenten und Fähigkeiten, doch sei dir dabei stets der Vergänglichkeit aller Erscheinungen bewusst. Das Hängen an äußeren Erscheinungen führt zwangsläufig zu Leid, denn alles, was entsteht wird auch vergehen. Erkenne dass das Glück niemals von außen kommt. „Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Schönheit und Freude sind nur in dir. Äußere Erscheinungen können dich nur anregen sie wahrzunehmen.

Präsenz, Stille und Nicht-Identifikation führen zum umfassenden transzendenten Sein. Die erscheinende Welt, mag sie auch ein Kind der Maya (Sanskrit – Illusion, indische Göttin, Weltenmutter) sein, ist geboren aus diesem Sein und Teil dieses Seins. Solange wir mit einem Körper verbunden sind, dürfen wir die Geschenke der Maya genießen. Doch der wahre Genuss des Daseins ist nur in Verbindung mit dem universellen Bewusstsein möglich. In der Balance zwischen individueller Persönlichkeit und unbegrenztem Bewusstsein finden wir unsere Bestimmung.

Was ergibt sich aus den vorstehenden Zeilen konkret für die eingangs beschriebenen Fragen des jungen Seminarteilnehmers in Wernberg?

Durch die Vereinigung mit dem universalen Bewusstsein (über reine Wahrnehmung, neutrale Zeugenschaft, Konzentration und Meditation, Yoga-Weg) werden wir nicht zu einem eigenschaftslosen, unpersönlichen und freudlosen, über allem Irdischen schwebenden „Heiligen“. Natürlich ergeben sich durch dieses neue Bewusstsein wesentliche Veränderungen in unserer Denk- und Lebensweise. Wir werden ruhiger, gelassener, friedvoller, liebevoller. Doch die Freude am Dasein, Heiterkeit und gelegentliche Emotionen verschwinden nicht, sondern gewinnen an Klarheit, Kraft und Tiefe. Sollte dies bei einer Person nicht der Fall sein, so ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich diese auf einem Irrweg befindet.

 

Bernd Helge Fritsch