ESSAY-
Essay-
Hypersensibel?
© Bernd Helge Fritsch
Von einer lieben Teilnehmerin bei unserer Philosophie-
Hochsensible Menschen nehmen mehr Reize auf als andere und reagieren intensiver auf sie.
Nach Sellin bedeutet eine hohe Empfindlichkeit eine besondere Begabung. Sie kann sich für den äußern Erfolg eines Menschen sehr positiv auswirken. Hochsensible können sich besonders gut in andere Menschen einfühlen, haben meist eine gute Intuition um schwierige Aufgaben zu lösen, sind kreativ und künstlerisch veranlagt. Auf der anderen Seite leiden sie oft darunter, dass sie unter dem Eindruck der Wünsche anderer ihre eigenen Bedürfnisse missachten. Sie stellen zu hohe Anforderungen an sich selbst und kommen schwer mit der Reizüberflutung in der heutigen Welt zurecht. Angeblich gehören 15 bis 20% aller Menschen zur Gruppe der Hochsensiblen.
Die Leiden der Hochsensiblen beginnen meist schon in der Kindheit. „Sei doch nicht so sensibel!“ Mit solchen oder ähnlichen Worten wird dem sehr empfindlichen Kind frühzeitig einsuggeriert, dass mit ihm etwas nicht stimmt. So kommen Kinder bald zu dem Schluss, dass ihre Wahrnehmung wohl etwas Schlechtes sein müsse. Jetzt beginnt nach Sellin „der Kampf gegen die eigene Wahrnehmung!“ Das Kind beginnt seinen Beobachtungen und Beurteilungen zu misstrauen. Es erkennt, dass belohnt wird, wenn es sich an das Verhalten anderer anpasst. So lernt es seine hohe Sensibilität zu unterdrücken um angenommen und geliebt zu werden. „ Die Übereinstimmung mit der Weltsicht der weniger Sensiblen fühlt sich gut an. Sie vermittelt ein Empfinden von Zugehörigkeit und Sicherheit…“
Gefühle werden durch den Körper vermittelt. Wenn das Kind lernt, dass es nicht in Ordnung ist, seinen Körper und seine Empfindsamkeit zu beachten und wenn es erfährt, dass seine Eigenart Konflikte mit anderen hervorruft, zieht es sich aus dem Kontakt mit seinem Körper zurück. „In der Folge wird der eigene Körper als wertlos angesehen, als lästiges Anhängsel von Geist und Seele…“ Doch wenn der Bezug zum Körper verloren gegangen ist, fehlt dem Hochsensiblen das sogenannte „Bauchgefühl“. Sellin: „Ohne die Resonanz seines Körpers ist er den Interessen anderer ausgeliefert. Er wird dann leicht zum Opfer von Manipulation, weil er fremden gedanklichen Konstrukten mehr Glauben schenkt als seinen eigenen Gedanken und seinem Gespür, obwohl genau dieses Spüren seine besondere Gabe wäre.“
Der/die Hochsensible verhält sich oft für längere Zeit angepasst, was von der Umgebung als selbstverständlich und angenehmem empfunden wird. Doch das kann plötzlich umschlagen, wenn er/sie versucht auszubrechen. Um sich „zu retten“ neigt er dann oft dazu, sich auf einenkopflastigen eigenen Standpunkt zu fixieren. „Im Unterschied zu einem gewissermaßen natürlichen Standpunkt aus dem eigenen Zentrum heraus, wirkt dieser bewusst vom Kopf her eingenommene Standpunkt oft theoretisch, dogmatisch und starr.“ Hochsensible werden deshalb gerne als starrsinnig, unnatürlich und unberechenbar beurteilt.
Durch seine Anpassungsversuche verliert der Sensible sein eigenes Zentrum welches
ihm durch sein Körperbewusstsein vermittelt wird. Sellin: „Mit der Nicht-
Sellin empfiehlt in seinem Buch verschiedene Lösungen um das „Manko“ der Hochsensibilität in ein „Plus“ umzuwandeln. Man könnte sie wie folgt kurz zusammenfassen:
Selbstzentrierung:
Sellin erklärt: Die Lektion des Hochsensiblen besteht darin, sich zu zentrieren um sich selbst und die Welt von seinem eigenen Standpunkt zu erkennen. Und er fügt weisheitsvoll hinzu: „Eine weitere Chance besteht in der Fähigkeit, uns selbst in Frage zu stellen und eigene Defizite zu erkennen.“
Selbstzentrierung bedeutet sich selbst körperlich wahrzunehmen. Gerade im Kontakt mit anderen ist es wichtig, bewusst und präsent zu bleiben. In der Begegnung mit anderen verlieren wir weniger Energie, wenn wir auch uns selbst dabei wahrnehmen.
Steuerung der Wahrnehmung:
Jede Wahrnehmung ist subjektiv gefärbt. Das Gehirn nimmt über die Sinnesorgane äußere Informationen auf, filtert sie, ordnet sie, bewertet sie. Ebenso geht es mit inneren Informationen, Gedanken und Gefühlen um. So baut jeder eine eigene Welt für sich zusammen. Wir können allerdings unsere Wahrnehmungen bewusst steuern, was insbesondere für Hochsensible wichtig ist. Diese reagieren beispielsweise besonders empfindlich auf störende Reize. Oft ist es jedoch nicht möglich diese Störungen einfach abzustellen. Doch je mehr wir uns mit einer Störung beschäftigen und uns dagegen wehren, desto intensiver nehmen wir sie wahr.
Sellin: „Der Umgang mit der eigenen hohen Sensibilität erfordert auch eine geistigen Haltung der Annahme und Akzeptanz der Menschen, so wie sie sind, und des Lebens, so wie es ist.“
Abgrenzung:
Die zentrale Empfehlung von Sellin für Hochsensible lautet: „Wer seine Grenzen kennt, sie wahrnimmt, bereit ist, auf sie zu achten, und den Mut und die Kraft hat, sie zu markieren und zu verteidigen, kann am ehesten damit rechnen, in Harmonie mit anderen zu leben und in Frieden mit sich selbst. Die Wahrnehmung und Respektierung unserer eigenen Grenzen schützt uns vor Selbstüberforderung und ermöglicht uns zugleich, uns unseren realen Kräften gemäß zu entfalten und zu wachsen, uns den Raum im Leben zu nehmen, den wir auszufüllen vermögen.“
Der Sensible wird von zwei extremen bedroht: Einerseits will er möglichst perfekt handeln und mit allen Menschen in Harmonie leben. Das verleitet ihn über seine Grenzen hinauszugehen und sich zu überfordern. In der Folge kann dies rasch zu Erschöpfung, Krankheit und Depression führen. Die Gegenbewegung besteht sodann darin sich möglichst zurück zu ziehen. Doch die „Lösung des Konfliktes liegt durchaus nicht darin, sich nur noch im Schongang zu bewegen, sich wie ein Baby zu verhätscheln, sich in Watte zu wickeln und sich von allem Unbill der Welt fernzuhalten.“
Sellin kommt daher zum Ergebnis, dass wir nur durch achtsame Selbstwahrnehmung unsere natürlichen Grenzen erkennen und uns sodann ihnen entsprechend verhalten können.
Gedankenkontrolle:
Ausführlich beschäftigt sich Sellin in seinem Buch mit dem Bewussten Denken.
Er stellt an den Leser folgende Fragen, die wir uns öfters stellen sollten:
Und er ergänzt: „Wenn Sie wahrnehmen, was Sie denken, können Sie auch über ihr Denken nachdenken. Sie können dann auch entscheiden, ob sie überhaupt denken wollen oder vielleicht ganz anders. Mehr und mehr denken Sie bewusst, und das bedeutet mehr Freiheit für Sie. Sie nehmen dadurch endlich ihren eigenen Kopf selbst in Besitz.“
Ich danke Herrn Sellin für die ausgezeichneten Anregungen in seinem Buch und ich kann jedermann/frau die Lektüre desselben empfehlen. Nach meiner Ansicht sind nicht nur 10 bis 15% aller Menschen hochsensibel, sondern vielleicht 90 bis 100%. Doch fördert unsere Gesellschaft die Unterdrückung dieser großartigen Eigenschaft. Wenn das Bewusstsein der Menschen über Generationen von Kriegen, Wirtschaftskrisen, Existenzängsten und egozentrischem Denken geprägt ist, so bleibt wenig Raum offen für jene feinen Wahrnehmungen, die für uns besonders wichtig sind, um unsere Mission auf dieser Erde zu erkennen.
Das Buch setzt sich nur kurz mit der spirituellen Dimension der Sehnsucht nach Vollkommenheit und Harmonie im Zusammenleben mit anderen Menschen auseinander. Nach meiner Ansicht werden wir die Probleme, die sich aus einer hohen Empfindsamkeit ergeben, nur dann grundlegend lösen, wenn wir soweit sind die Fragen zu beantworten: „Wer bin ich?“ „Was bedeutet die äußere Welt?“ „Welchen Sinn hat unser Erdendasein?“
Diese Anmerkung möge jedoch nicht als Kritik an diesem Buch aufgefasst werden. Denn ein tieferes Eingehen auf diese Fragen, würde wohl den gesteckten Rahmen desselben sprengen.
Bernd Helge Fritsch