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Essay-Brief März 2011

Meditativer Lebensstil

© Bernd Helge Fritsch

 

Wie Shankara in seinem „Kleinod der Unterscheidung“ erklärt, ist es ein besonderes Geschenk als Mensch in diese Welt geboren zu sein.

„Es gibt Wesen, die jene seltene menschliche Geburt erlangt haben. Sie sind jedoch so sehr in Täuschung verfangen, dass sie sich nicht um Befreiung bemühen. Solche Menschen sind Selbstmörder. Sie klammern sich an das Unwirkliche und zerstören sich selbst…“

Shankara war ein hochverehrter indischer Philosoph. Er lebte im 8. bis 9. Jahrhundert n. Chr. Die Überlieferungen über seine Lebenszeit sind sehr ungenau. Er war Vertreter der Advaita-Philosophie. Sie besagt, dass es nur EIN „Sein“, nur eine Einheit allen Lebens gibt. Alles ist Brahman (Gott, universelles Bewusstsein). Deswegen ist auch der Mensch in seiner Essenz nicht getrennt von der Natur, von anderen Menschen, vom allumfassenden Sein. Nur in seinem getrübten Bewusstsein, entsteht die Illusion allein einer (oft als bedrohlich eingestuften) Welt gegenüber zu stehen.

Der Mensch schläft in einem gewissen Sinn auch im Wachzustand. Er wird beherrscht von den Aktivitäten seines Mind (Denken, Fühlen, Wollen). Er steht unter einem permanenten Denkzwang. Ein ständiger Strom von Gedanken durchdringt und steuert sein Innenleben. Gewöhnlich ist sich der Mensch des Gedankenstroms in dem er lebt nicht bewusst. Für ihn ist es „normal“ ständig zu denken und an die Inhalte seiner Gedanken zu glauben.

Wahres Mensch-Sein, bewusstes „Sein“ beginnt erst, wenn das Individuum aus dem ständig vorherrschenden Tagtraum erwacht. Erst wenn der Mensch lernt seinen Gedanken zuzuschauen und sie als vergängliche Erscheinungen mit oft fragwürdigem Inhalt zu erkennen, beginnt er über die Dimension des Mind, über seine Gefangenschaft im Mind hinaus zu wachsen. Er wächst hinaus über seine Sorgen und Probleme. Er wächst hinaus über die Idee für sein Wohlergehen, für sein Glück kämpfen zu müssen, wobei der Ausgang seiner Bemühungen ungewiß ist.

Gedanken sind nützlich um sich in der Welt der Erscheinungen zu orientieren. Sie dienen dazu Situationen zu analysieren, verschiedene Erfahrungen miteinander zu vergleichen, das Nützliche vom Schädlichen zu unterscheiden. Gedanken sind jedoch ungeeignet, das Leben an sich zu erfassen. Gedanken bleiben immer an der Oberfläche der Erscheinungen. Sie erkennen gewisse äußere Aspekte des Lebens, doch sie zeigen nicht die Bedeutung, die Wirklichkeit und Tiefe des Seins. Gedanken „erblicken“ nur das Vergängliche. Dazu zählen unser Körper, unsere Beziehungen, unsere Erlebnisse, unsere Erfolge und Misserfolge, das Wirtschaftsleben, politische Ereignisse usw. Wer nur diese Dimension des Seins kennt, wird immer von einem Gefühl des Mangels, der Angst vor Alter und Tod, der Sinnlosigkeit begleitet sein. Gedanken trennen uns vom umfassenden Sein. Sie machen uns glauben, dass wir nicht das Leben „sind“, sondern nur ein vergängliches Leben „haben“.

Gedanken sind nicht fähig, die Fülle des Lebens, die Vollkommenheit des Universums zu erfassen. Mit Gedanken das Leben verstehen zu wollen, gleicht dem Versuch mit einem Eimer das Meer auszuschöpfen. Wir müssen den Mut und die Achtsamkeit entwickeln, in die Welt jenseits der Gedanken zu schauen. Das ist leichter und einfacher als sich das der gewöhnliche Mensch vorstellt.

Wir können unseren Lebensstil grundlegend verändern, wenn wir damit beginnen alle Tätigkeiten mit Gelassenheit, beschaulich, ohne hektisches Denken und möglichst bewusst auszuführen. Wir sind ganz „dabei“, ganz präsent, bei dem, was wir gerade tun. Wir gehen bewusst von einem Raum zum andern. Wir sitzen bewusst vor unserem Schreibtisch, wir fahren bewusst und achtsam mit dem Auto. Wir sind ganz gegenwärtig im Gespräch mit anderen Personen, wir erfreuen uns des Wetters, ob die Sonne scheint oder es regnet usw. Das nenne ich eine hellwache, meditative Lebensart.

Im nächsten Rundbrief wollen wir uns weiter mit den Anleitungen Shankaras zu einem bewußten und befreiten Lebensstil auseinandersetzen. Die Basis für die Durchdringung der Lebensillusion (Maya) ist nach Shankara - die Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem. Davon mehr beim nächsten Mal.

 

Mit herzlichem Gruß

Bernd Helge Fritsch