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Essay-Brief April 2013

Erlösende Weisheit (Teil 1) - Jnana Yoga

© Bernd Helge Fritsch

 

Yoga bedeutet „Eins-Werden“. Vom Sinn her entspricht dieser Begriff dem Wort „Religion“ (lat. re-ligare = Rückbindung). Gemeint ist die Wiedervereinigung mit unserem Wesenskern, mit Gott).

Es gibt verschiedene Yoga-Wege. Zum Beispiel „Karma Yoga“ (Yoga der selbstlosen Tat), „Bhakti Yoga“ (Yoga der Hingabe) oder „Jnana Yoga“ (Yoga der Weisheit). Sie alle dienen letztlich dazu über den Verstand hinauszugehen und das „Selbst“ zu erkennen. Der „Weg“ wird oft der „pfadlose Pfad zum ziellosen Ziel“ genannt. Denn es gibt dabei nichts zu „erreichen“. Jeder Mensch „ist“ schon vollkommen. Jeder ist schon durch und durch „göttlich“. Nur nach der irrigen Ansicht unseres dualen Bewusstseins fehlt etwas. Deshalb sind wir auf der Suche. Doch gerade diese Vorstellung: „Ich bin da und mein „Glück“ oder mein höheres „Selbst“ oder „Gott“ sind dort!“ verhindert das Erwachen.

Nach dem hinduistischen Verständnis ist die Wurzel von allem Übel, von allem Leid und aller Probleme das „Nicht-Wissen“ (Avidya). Durch Erkenntnis der „letzten Wahrheit“ tritt hingegen Befreiung ein von Sorgen und Leid. Sodann sind wir EINS mit der Freude des Seins.

„Nicht-Wissen“ kann gleichgesetzt werden mit einer Verblendung durch die Erscheinungen der Welt. Diese Erscheinungen zeigen uns eine Vielfalt von getrennten Dingen, die nach unserer Meinung nur beschränkten Bezug zueinander haben. Zu ihnen gehört auch unser Körper. Soweit wir uns mit ihm identifizieren, sind wir ein isoliertes Lebewesen, das geboren wird, durch Freuden und Leiden hindurchgeht und nach etlichen Jahren wieder stirbt. Bei dieser Sicht haben wir die unvergängliche Kraft, die alle Erscheinungen entstehen lässt, ihre fragile Existenz ermöglicht und sodann ihre Auflösung besorgt, vergessen. Dieses Vergessen ist die Ursache aller Ängste und Nöte.

Alle Weisheitslehren, alle Religionen gehen davon aus, dass jedes Ding (die ganze Natur, umfassend alle Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen) aus dem universellen Geist entsteht. Die Materie kann nicht aus sich heraus Dinge und letztlich sogar Gedanken und Gefühle, Weisheit und Liebe erschaffen. Die unglaubliche Vielfalt, Schönheit und Weisheit der Schöpfung ist ein Abbild, ein Ausdruck des universellen Spirits, aus dem alle Erscheinungen hervorgehen. In vergleichbarer Weise entsteht jedes Menschenwerk, zum Beispiel ein Haus, vorerst im menschlichen Geist. Ohne die vorangehende Planung und Vorstellung der Form und der Materialien des Hauses kann kein Haus in die Erscheinung treten.

Die Bhagavadgita beschreibt den allumfassenden Geist mit den Worten:

Er ist innerhalb und außerhalb aller Wesen. Er bewegt alles und ist doch selbst in Ruh. Er ist unendlich fern und dennoch nah.

Er ist unteilbar und scheint doch unter allen Wesen aufgeteilt zu sein. Alle Wesen trägt er, lässt sie entstehen und untergehen.

Er ist das Licht der Lichter. Weilt jenseits aller Finsternis. Er ist das Subjekt, Objekt und das Ziel des Wissens. In allen Herzen ruhet er.

(Gita XIII,15-17)

 

Der universelle Geist ist grenzenlos und daher nicht mit dem Verstand greifbar. Er ist allumfassend, alles entsteht aus ihm. Er birgt unbegrenzte Möglichkeiten von Erscheinungen in sich, die jedoch nur zu einem kleinen Teil manifestiert sind. Er ist Alles und zugleich das Nichts. Alle Schöpfung ist durchdrungen von ihm und daher in der Essenz sogar identisch mit ihm. Alle Atome und daher auch jede Zelle unseres Körpers stammen aus ihm. Wie die moderne Physik aufzeigt ist alle Materie lebendig, in ständiger Bewegung. Sie besteht nur aus Energie, aus Schwingung in hoher Frequenz. Sie ist Geist in sichtbarer Form.

Die Idee der Einheit allen Seins wird besonders deutlich und radikal von der hinduistischen „Advaita – Philosophie“ vertreten, die sagt: „Es gibt nur Eines und kein Zweites!“ Nach dieser Philosophie gibt es keine voneinander getrennten Dinge und Lebewesen. Trennung erscheint erst durch unseren analytischen, dual denkenden, auf die Sinneswahrnehmungen beschränkten Verstand. Was der gewöhnliche Mensch daher sieht und glaubt ist „Maya“, die große Illusion. Diese große Täuschung ist die Wurzel all unserer Probleme.

Dazu eine kleine Geschichte: Der kleine Franzi hat Erstkommunion. Der Pfarrer, der die Zeremonie vollzieht, fragt die Kinder: „Wo ist Gott?“ Niemand antwortet. Darauf der Pfarrer: „Wer mir sagen kann wo Gott ist, bekommt von mir eine Orange!“ Da meldet sich der kleine Franzi: „Und wenn Sie, Herr Pfarrer, mir sagen können, wo Gott nicht ist, bekommen Sie von mir zwei Orangen!“

Auch der Mensch und mit ihm sein Geist und seine Schöpferkraft gehen zurück auf den universellen Geist. Doch wir sind nicht nur ein Produkt des universellen Geistes. Man kann sagen unser individueller Geist trägt alle Gene des „Gott-Geistes“ in sich. Wir sind nicht alleinstehende Individuen. Wir sind auch nicht nur ein Teil eines Ganzen. Sondern wir sind „individualisierter universeller Geist“ - ein scheinbarer Widerspruch? Wir sind potentiell individualisierte „Gottheiten“, das heißt unsterblich, unbegrenzt und vollkommen. Wenn wir das erkennen und leben könnten, hätten wir alles erreicht.

Die Weisheit und Vollkommenheit der Lebensbedingungen auf unserer Erde, die wunderbar lebensspendende Kraft unserer Sonne und die über das Fassbare hinausgehende grenzenlose Weite des Kosmos sind offenkundig. Die Herrlichkeit und Vollkommenheit allen Lebens zeigt sich in der verschwenderischen Vielfalt und Schönheit der Mineralien, Pflanzen und Tiere. Der Mensch allerdings scheint ein Sonderfall zu sein. Zugegeben auch sein Körper, seine Denk- und Gefühlsfähigkeit sind unbegreifliche Wunderwerke. Doch so wie er zwischen Freude und Leid hin und her pendelt, wie er seine Umwelt zerstört und Kriege führt, wie er von Hass, Neid und Gier getrieben ist, wie er sich immer wieder ärgert und sich Sorgen macht, sich stresst und abkämpft, muss irgendetwas bei seiner Schöpfung schief gelaufen sein! Oder befindet sich auch dahinter verborgen die Weisheit und Vollkommenheit des universellen, allumfassenden Geistes?

Der Mensch, „die Krone der Schöpfung“, der laut Altem Testament zum „Ebenbilde Gottes“ geschaffen wurde, unterscheidet sich von den Tieren insbesondere durch seine Fähigkeit der Reflexion. Er kann sich und die Welt nicht nur wahrnehmen und instinktiv auf Ereignisse reagieren, sondern er kann über all seine Erfahrungen „Nach-Denken“ und „Vor-Denken“. Er betrachtet, was war, beurteilt es und macht sich Gedanken darüber, was sein wird. Die Basis dieser Reflexionen ist sein Gedächtnis. Mit seiner Hilfe kann der Mensch immer wieder über Vergangenes „nach-denken“ und sich die Zukunft „aus-denken“.

Die spezielle Art wie unser Denken „programmiert“ ist, wurde uns vom universellen Geist vorgegeben. Wir haben uns das nicht „erdacht“ oder ausgesucht. Dieses Programm, vergleichbar mit einem Computer-Programm, ist unglaublich intelligent aufgebaut. Man kann es weder als „gut“ noch als „schlecht“ bezeichnen. Es ist wie alles, was aus dem universellen Geist entspringt, vollkommen. Wir Menschen können entscheiden, wie wir von diesem Programm Gebrauch machen. Je nach der Art der Verwendung ist unsere Denk- und Reflexions-Fähigkeit ein Segen oder ein Fluch.

Der „Segen“ der Denkfähigkeit besteht darin, dass sich der Mensch, wie in der Schöpfung vorgesehen, mit ihrer Hilfe die Welt weitgehend „untertan“ (siehe 1.Mose 1,28) machen konnte. Wir verdanken unserem Denken viel „Wissen“ um die Naturgesetze. Alle technischen und medizinischen Errungenschaften der heutigen Zeit beruhen auf unserem Denkvermögen. Aus diesem Denken entspringen die Geschenke wie Wohngebäude, Wasser aus der Wasserleitung, Kanalisation, Strom aus der Steckdose, Straßen, Autos, Telefon, Bekleidung, Nahrungsmittel die man an jeder Ecke kaufen kann, medizinische Versorgung und vieles andere. Sie sind uns so selbstverständlich geworden, dass viele auf Dankbarkeit längst vergessen haben.

Das „Geschenk“ unseres Denkprogramms geht weit über das „Wissen um die Naturgesetze“ hinaus. Es ist die Basis der Freiheit des Menschen. Darauf werde ich später näher eingehen.

Und nun wollen wir uns mal den „Fluch“ unseres „Denkprogramms“ näher anschauen. Wir wollen uns fragen: Weshalb ist das Leben für die meisten Menschen wenig freudvoll? Weshalb haben die Menschen jede Menge Ärger und Stress? Weshalb machen sie sich Probleme und Sorgen? Weshalb sind sie nie restlos glücklich und zufrieden?

Mit „Viel Wissen“ ist nicht zwangsläufig Weisheit verbunden. Das Leiden der Menschen resultiert aus ihrer Sucht die Welt in Kategorien von „gut“ und „böse“ einzuteilen. Der Ursprung dieser Sucht wird im Gleichnis vom „Sündenfall“ im 1.Buch Mose 2,16 ff treffend geschildert.

Es gehört zum Überlebenstrieb des Menschen, das auszuwählen, was für seinen Körper und sein Gefühlsleben angenehm und förderlich ist und das zu meiden, was nicht so gut „schmeckt“ oder vielleicht sogar gesundheitsschädlich oder gefährlich ist. Auch Tiere folgen diesem Trieb in perfekter Weise. Eine Ziege auf der Weide wählt zuerst die wohlschmeckendsten Kräuter. Gibt es diese nicht mehr, so frisst es die nächstbesten. Sie ist allerdings dabei immer im Einklang mit dem, was sie vorfindet. Sie ärgert sich nicht darüber, wenn die besten Kräuter nicht mehr vorhanden sind. Sie beschuldigt nicht ihre Weidegenossen, dass sie zu gierig gefressen haben. Sie denkt nicht darüber nach wie schön es gestern war. Sie sagt sich nicht: „Gestern war es so herrlich auf dieser Wiese und wie schrecklich ist es heute!“ Sie bedauert sich nicht: „Ach wie arm ich jetzt bin, dass ich andere Pflanzen fressen muss!“. Sie beneidet keine anderen Ziegen auf der Nachbarweide, die vielleicht bessere Kräuter haben. Sie stresst sich nicht und schmiedet nicht rastlos Pläne wie sie zu besseren Gräsern kommt. Sie sorgt sich nicht um den nächsten Tag. Und sie betet auch nicht zum Himmel, dass ihr Gott in ihrer Not zu Hilfe kommt.

Der Mensch erlebt Angenehmes und Unangenehmes. Durch seine Reflexionsfähigkeit erinnert er sich an das, was ihm gefallen hat und an das, was ihm nicht gefallen hat. Soweit so gut. Doch jetzt beginnt sein Drama: Er beurteilt das, was angenehm war als „gut“ und das, was ihm nicht so gut gefallen hat als „schlecht“ („böse“). Statt einfach zufrieden zu sein, mit dem, was ihm das Schicksal jeweils zuteilt, „entscheidet“ er (unbewusst) bei der Begegnung mit dem, was  er als angenehm und daher als „gut“ einstuft, glücklich zu sein. Begegnet er dem, was er als „schlecht“ beurteilt, so „entscheidet“ er (reflexartig) zu leiden und unglücklich zu sein. Er erkennt dabei nicht, dass sein „Bewerten“ die Dinge „gut“ oder „böse“ macht. Er erkennt nicht, dass er fortwährend selbst über sein Glücklich- und Unglücklich-Sein entscheidet. Sein kleiner, begrenzter Verstand zeigt ihm nicht alle Zusammenhänge. Er zeigt ihm nicht den Sinn der angenehmen und unangenehmen Erscheinungen. Er zeigt ihm nicht den Sinn des Auf und Ab in seinem Leben. Deshalb lehnt er sich gegen das auf, was ihm missfällt und versucht, das zu erreichen, von dem er sich sein Glück erhofft. Er liebt nicht das Sein wie es ist, sondern entwickelt inneren Widerstand und äußeren Kampf. Er beginnt zu strampeln, sich zu ärgern, sich zu quälen, zu rennen, sich zu sorgen, sich zu stressen.

Würde er ohne Bewertung und ohne die damit verbundenen Emotionen „wählen“ zwischen den Möglichkeiten, die ihm das Leben anbietet, so wäre er glücklich und zufrieden, mit dem „was jetzt ist und was kommen mag“. Denkt er nicht unnötig darüber nach, was „schlecht und gut“ war und macht er sich keine Sorgen um das, was in Zukunft sein könnte, so hätte er keine Probleme. Wir sollten dabei Eines beachten: Die Befreiung erfolgt nicht indem wir sinnlos dulden und leiden. Wir können ohne uns zu sorgen, ohne daraus ein Problem zu machen, unter sich anbietenden Entscheidungen auch für die Zukunft WÄHLEN. Das Schicksal bietet uns tausende Möglichkeiten und es macht keine Fehler, denn es ist Teil der allumfassenden Vollkommenheit.

Du brauchst nichts tun (Wu – Wei) die Tafel ist für alle überreich gerichtet. Du brauchst nur nach deinen individuellen Bedürfnissen zu wählen.

Doch das Drama setzt sich fort: Je heftiger die Ablehnung, der Ärger, das Selbstbedauern desto stärker klebt der Mensch gedanklich an der Vergangenheit. Je mehr ihm etwas gefallen hat, desto lebhafter begehrt er es und wünscht, es in der Zukunft zu bekommen. Je mehr ihm etwas missfällt, desto mehr Angst entwickelt er, dass die Zukunft ihm solches bringen wird. Das ist die Ursache der ständig im Gehirn um Vergangenes und Zukünftiges kreisenden Gedanken. Kreisende Gedanken vertreiben den Menschen aus seinem ursprünglichen Frieden und seiner Glückseligkeit. Fast bei allen Menschen hat sich das oben erwähnte „Computer-Reflexions-Programm“ verselbstständigt. Es arbeitet ungefragt pausenlos. Es treibt ihn ständig an zu werken um seine Umwelt so zu verändern, dass sie endlich seiner Vorstellung von „gut“ entspricht, in der Hoffnung dann endlich glücklich zu sein.

Mit der Bewertung von „gut“ und „böse“, mit Widerstand gegen das, was ist und mit dem Begehren von dem, was nicht ist, entsteht ein vom universellen Geist getrenntes, künstliches Wesen namens „Ego“. Doch auch dieses Ego ist Teil der allumfassenden Vollkommenheit. Über die wichtige Mission des Egos und die Befreiung unterhalten wir uns näher im kommenden Essay-Brief.